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Channel: Individuum – anti-capitalism revisited
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Gendern?

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„Die Welt ist schlecht, weil alle Menschen Vorurteile haben
Deshalb plädiere ich stark für eine Abschaffung der Sprache
Allgemein – Denn Sprache ist abstrakt und schließt Vorurteile
Somit automatisch ein – automatisch ein“
(NMZS – Kommentarfeld)

Dieser Text soll unsere Diskussion zur Praxis des ‚Genderns‘, also der Veränderung von Sprech- und Schreibformen, die sich (auch) auf Geschlechter beziehen, dokumentieren. Dabei geht es uns nicht darum, erschöpfend alle Argumente für und gegen diese Praxis darzulegen, vielmehr wollen wir unseren internen Diskussionsprozess transparent machen. Im Folgenden führen wir vier wesentliche Argumente/Positionen auf.

a) Sprache ist wirkmächtig. Sprech- und Schreibweisen, die Frauen* ignorieren (wie das generische Maskulinum) hängen mit Denkweisen zusammen, die Frauen* grundsätzlich passive Positionen in der Gesellschaft zuschreiben. Hinzu kommt, dass Menschen, die sich nicht in das System von nur zwei Geschlechtern einordnen wollen, in den meisten Sprech- und Schreibweisen schlicht ignoriert werden.

b) Gegenderte Sprache birgt die Gefahr, die sexistische Realität zu verschleiern. Wenn ich beispielsweise aus vermeintlicher Sprachsensibilität ‚Reinigungskräfte‘ statt ‚Putzfrauen‘ schreibe, spreche ich einerseits exakter, weil ich die männlichen* Reinigungskräfte mit einbeziehe, unterschlage damit aber auch den Fakt, dass diese besonders unangenehme Lohnarbeit eben überwiegend von Frauen* durchgeführt wird. „Die Verwendung des Unterstrichs wäre unserer Einschätzung nach in diesem Kontext euphemistisch, da wir damit behaupteten, die Wahl zwischen vielen verschiedenen verlockenden Möglichkeiten geschlechtlicher Identität zu haben. Die sehen wir nicht.“ (Lent/Trumann 2015, S. 11) Andererseits können auch Wünsche oder Utopien in das Sprachhandeln einfließen. So kann gegenderte Sprache auch als Ausblick auf eine angenehmer organisierte Welt gelesen werden.

c) Die Grenze zwischen sensiblem Sprechen/Schreiben und Sprachpolizei-Gehabe ist nicht immer eindeutig. Wenn Regeln für sensible Sprache mit einer Haltung vertreten werden, die dazu führt, dass ‚Nicht-Eingeweihte‘ sich nicht mehr trauen, an Debatten teilzunehmen, ist dem kritischen Denken mehr geschadet als geholfen.

d) Rassismen und Sexismen lassen sich nicht einfach durch Sprachtechniken vermeiden. Sie strukturieren unsere Gesellschaft, sichern Herrschaftsverhältnisse und produzieren somit Ausschluss. Es ist utopisch zu glauben, dass sich heutige Gesellschaften, die komplett von Rassismus und Sexismus durchdrungen sind, vollständig von diesen Ideologien befreien können. Was uns als Instrument bleibt ist die Kritik an den herrschenden Ideologien. Wenn wir den Schritt wagen, ausgrenzende und herabwürdigenden Ideologien zu thematisieren und zu kritisieren, wäre es reichlich inkonsequent, die eigene Sprache von diesen Reflexionen unberührt zu lassen. Dennoch können eingeübte Sprechweisen als eine Art Szenekonsens auch darüber hinwegtäuschen, dass Reflexion eben kein Schritt ist, der, einmal gegangen, abgehakt
werden kann.

Da diese Sichtweisen nicht widerspruchsfrei zu vereinen sind, haben wir uns entschieden, unsere Texte nicht auf eine einheitliche Art und Weise zu gendern. Wir arbeiten stattdessen teils mit binären Geschlechterkonstruktionen, teils mit einem Gendersternchen (*) oder Unterstrichen (_). Das Sternchen bedeutet, dass mehrere Geschlechtsidentitäten jenseits der binären Geschlechterlogik (Frau und Mann) existieren können und dies freilich auch in der Geschichte der Fall war, es allerdings weniger thematisiert werden konnte. Der Unterstrich (auch Gendergap) symbolisiert eine Freistelle, in der sich Menschen finden können, die sich geschlechtlich nicht
traditionell verorten. Schreiben wir zwecks der Lesbarkeit beispielsweise „Jüdinnen und Juden“, meinen wir selbstredend nicht nur die beiden hegemonialen  Geschlechterkonstruktionen, sondern die ganze Bandbreite an Geschlechtsidentitäten, darüber hinaus auch jüdische Kinder und Jugendliche. Wir erachten es jedoch als schwierig, historische Gegebenheiten und Termini, wie z.B. „Judenfeindschaft“, durch komplexe sprachliche Neologismen, wie Jüd*innenfeindschaft zu ersetzen, da uns dies dem Zweck eines kritischen Textes nicht angemessen erscheint und eine
Anschlussfähigkeit des Textes erschweren würde. Wir bitten um das Verständnis unserer Lesenden. Mit unserer Gendering-Praxis versuchen wir unter anderem auch darauf aufmerksam zu machen, dass beispielsweise Antisemit*innen nicht ausschließlich Männer sind, sondern auch im weiblichen und in anderen Geschlechtsidentitäten zu finden sind.

* bzw. als solche wahrgenommene oder sich als solche wahrnehmende

Lent, Lilly / Trumann, Andrea (2015): Kritik des Staatsfeminismus. Kinder, Küche, Kapitalismus. Berlin: Bertz und Fischer

Emanzipation und Frieden, Dezember 2015


AntiBa – Der Barbarei entgegentreten!

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Über Antifaschismus in Zeiten von Djihadismus und Pegida

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Mittwoch, 27. Januar 2016, 18.30 Uhr, Celle
Neustadt 52, 29225 Celle

Eine Veranstaltung der Linksjugend ‚solid Celle

Seit zwei Jahren explodieren Dumpfbackentum, Ressentiment und Barbarei. Im Sommer 14 skandierten Massenaufmärsche „Tod den Juden!“. Organisiert wurden sie von Islamisten, Nazis und Linksreaktionären, deren antisemitischer Hass gegen Israel sie zusehends zusammenführt. Weltweit und in Europa häufen sich djihadistische Terroranschläge auf Juden und jüdische Einrichtungen, auf Symbole von Religionskritik, Meinungs- und Redefreiheit und auf Menschen, die einfach nur ihr Leben genießen oder feiern wollen. Die Reaktion darauf ist oft grotesk und macht wechselweise entweder „den Islam“ oder „den Westen“ für den Djihadimus verantwortlich. Viele verweigern sich ideologiekritischer Analyse, weil sie andernfalls ihr eigenes Ressentiment hinterfragen müssten. Auch in Deutschland erzielen Rechtsreaktionäre erschreckende Wahlerfolge. Ein rassistischer und gewalttätiger Mob agiert gegen MuslimInnen und Flüchtlinge und erfreut sich klammheimlicher bis offener Zustimmung der „Mitte der Gesellschaft“. Der Wahnsinn marschiert.

Antifa, das ist ihr unschätzbares Verdienst, will in Zeiten, in denen leider keine Aussicht besteht, die Verhältnisse grundsätzlich zum Tanzen zu bringen, wenigstens den allerschlimmsten und barbarischsten Kräften in den Weg treten. So wichtig es bleibt, sich offenen Nazis entgegenzustellen – es liegt auf der Hand, dass der Kampf gegen sie allein nicht mehr ausreicht. Stiefel- und Nadelstreifennazis verbindet trotz des äußerlichen Gegensatzes im Kern eine enge Seelenverwandtschaft mit Djihadisten. Wer um ein Minimum an Menschenwürde und um Mindestvoraussetzungen für eine irgendwann vielleicht doch noch gelingende Emanzipation kämpfen will, muss sich der anschwellenden Front der Barbarei in all ihren Facetten entgegenstellen. Vor welchen Herausforderungen theoretischer wie praktischer Art steht Antifaschismus heute? Wie hilfreich und wie problematisch ist die so genannte „Islamdebatte“? Können Begriffe wie „Islamismus“, „Islamophobie“ oder “Islamkritik“ die Problemlage erfassen? Warum ist eine konservativ-orthodoxe Interpretation der Religion in muslimischen Communities so stark präsent? Ist die Rede von „dem“ Islam zutreffend, der im Gegensatz zu „dem“ Christentum Humanität und Säkularität ausschließe? Wie ist ein emanzipatorischer Anspruch inmitten einer zunehmend verrückter werdenden Umgebung aus moslemhassenden Sarrazindeutschen, tatsachenresistenten Linken, Nazis und Djihadisten zu formulieren? Wie kann er praktisch werden?

Lothar Galow-Bergmann schreibt u.a. in Jungle World, Konkret und auf www.emafrie.de

 

Was ist Antisemitismus?

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Anmerkungen zur Wahnwelt des vernichtungsorientierten Antikapitalismus

Sind-Sie-auch-kein-Antisemit-grün-24-1

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Dass Antisemitismus etwas „irgendwie Schlechtes“ sei, hat man in Deutschland mittlerweile gelernt. Und auch, dass man die Rede vom Antisemitismus stets empört zurückweisen soll und darf, wenn sie im Zusammenhang mit etwas geschieht, das man selbst für lieb und teuer, für richtig und moralisch hält. Doch verliert der Begriff des Antisemitismus streckenweise im Gemenge der Phrasen seine Bedeutung. In der Absicht, das Bild der eigenen Person, Partei und Nation reinzuwaschen, wird er in gebetsmühlenartig vorgetragenen Mantren bis zur Inhaltsleere entstellt. Beispielweise von der Frauendeck-Piratin und HamasUnterstützerin Annette Groth von der Linkspartei mit der Lehrsatz-Behauptung „Was links heißt, kann nicht antisemitisch sein“. Manche tönen gar von der „Antisemitismuskeule”, die gegen sie geschwungen würde.Diese Flugschrift soll dazu beitragen, dass es diese Entwicklung etwas schwerer hat.

Ein Stereotyp wie jedes andere?

Die Reduktion von Antisemitismus auf ein „Stereotyp wie jedes andere“ greift aus verschiedenen Gründen zu kurz. Erstens können Stereotype (also die pauschalisierende Zuschreibung von Eigenschaften aufgrund einer zumindest subjektiv wahrgenommenen Zugehörigkeit zu einer Kategorie von Menschen) positiv sein, und als solche relativ harmlos für die stereotypisierten Personen. Auch negative Stereotype können vollkommen konsequenzlos sein, weil sie sich eben lediglich darauf erstrecken, wie jemand jemand anderen sieht und wahrnimmt, aber nicht notwendig bestimmte Handlungen gegen diese Person nahelegt. Auch solche konsequenzlose Stereotype sind natürlich kritisierbar und würdig, bergen aber nicht an und für sich die Tendenz zur Auslöschung der Stereotypisierten.
Antisemitismus jedoch bleibt in aller Regel nicht konsequenzlos, sondern führt geradewegs zu Plänen und Intentionen, den Jüdinnen [1] Schaden zuzufügen, ihnen etwas wegzunehmen, sie zu bestrafen, und – im intensivsten Stadium – sie zu vernichten; bzw. zum Wunsch und zur heimlichen oder lautstarken Unterstützung dafür, dass jemand anderes dies tue.
Zweitens basieren Stereotype auf der Wahrnehmung, dass Menschen mit bestimmten Kategorieneigenschaften mit höherer Wahrscheinlichkeit irgendwelche anderen Merkmale aufweisen als solche mit anderen Kategorieneigenschaften. Daher kann sogar argumentiert werden, dass Stereotype auf bestimmten Auflösungsniveaus eine gewisse Realität abbilden. (Dass die allermeisten – auch der widerlichsten und gefährlichsten – antisemitischen Stereotype schlicht hanebüchene Lüge sind, bleibt von dieser generellen analytischen Beobachtung über Stereotype unberührt. Die Kritik, dass Stereotype eben nicht notwendig unwahr sind, gilt hier dem allgemeinen Stereotypbegriff und nicht der Tatsache, dass Stereotype sehr wohl schlicht falsch sein können.) Debatten darum, ob antisemitische Stereotype „stimmen“ oder nicht, geraten deshalb regelmäßig aus dem Ruder und tragen nichts dazu bei, Antisemitismus begrifflich unter Kontrolle zu bringen.
Wer je versucht hat, eine Antisemitin durch Aufklärung über „richtige Fakten“ zur Vernunft zu bringen, weiß, wie aussichtsarm (und überaus unerfreulich) dies Unterfangen ist. Das Problem am Stereotypbegriff, der Stereotype als Fehlinformiertheit auffasst, ist eben, dass diejenige, die das Stereotyp hegt, ja nicht unsicher über seine Sicht der Dinge ist oder an ihr zweifelt, sondern überzeugt ist davon, die Welt adäquat wahrzunehmen und nur die richtigen Schlussfolgerungen aus „Fakten“ zu ziehen. Eine Kritik am Antisemitismus, die ihm lediglich vorhält, eine durch fehlerhafte Fakten getrübte Wahrnehmung zu sein, verpufft deswegen in den meisten Fällen und verharmlost ihn darüber hinaus.
Die Gleichsetzung des Antisemitismus mit dem „Stereotyp über Juden“ verschleiert eine wichtige Frage, die zu einem klareren Begriff des Antisemitismus sowie zu seiner tatsächlichen Kritik führt. Was wäre denn, wenn einige der Stereotype über Juden stimmten? Was wäre, wenn tatsächlich deutlich mehr Juden Anwält*nnen, Ärzte, Wissenschaftlerinnen wären als Maurer, Schreiner_innen oder Angestellte? Was wäre, wenn tatsächlich Juden überdurchschnittlich erfolgreich wären in Finanzberufen, Kunst und Kultur (und im Kunst-und Kulturgeschäft, siehe „jüdisches Hollywood“), in wichtigen politischen Ämtern? Was wäre, wenn es stimmte, dass Jüdinnen sich im Zweifel nicht scheren um Schicksalsgemeinschaften, nationale Kollektive und lokale Vorstellungen dessen, was sich qua Tradition gehört und moralisch akzeptabel ist (ein Szenario, dass im negativen Ton als Tendenz zur „Zersetzung“, als „Illoyalität“ und „rücksichtsloser Individualismus“ beschrieben würde)? Wer den Antisemitismus lediglich als Phänomen der Un-oder Falschinformiertheit versteht, drückt sich um diese Frage. Er drückt sich darum, zum Kern des Antisemitismus Stellung zu nehmen, nämlich der Frage danach, ob Menschen, die in der modernen Warengesellschaft genau das tun, was ihnen ein besseres und schöneres Leben verspricht (und womöglich streckenwesie tatsächlich bringt) das „dürfen sollen“, oder ob man ihnen dafür den Garaus machen dürfe, solle und müsse.
Die Jüdinnen und Juden müssen dem Antisemitismus für alles herhalten, selbst für irgendwas und sein Gegenteil (Kapitalismus und Sozialismus, Armut und Reichtum, Solidarität und Illoyalität, Tradition und Moderne…). Ein solches Abladen von widersprüchlichen Ressentiments gegen „die Juden“ durch Gabe korrekter Information verhindern zu wollen (wie es bei einem Stereotyp sein müsste), ist offenkundig zum Scheitern verurteilt. Beim Antisemitismus handelt es sich nämlich im Kern gar nicht um eine tatsächlich inkorrekte, aber konsistente empirisch falsche Wahrnehmung „der Juden“, sondern um eine notwendig falsche Projektion.

Nicht Rassismus, sondern falscher Antikapitalismus

Der Antisemitismus ist nicht einfach eine unter vielen anderen Abneigungen gegen etwas, was rassistischen Spinner*innen als „Rasse“ und ihre „Eigenschaften“ gilt. Antisemitismus wendet sich als Ressentiment gegen Ideen, Prinzipien und Vorstellungen, die er in den Jüdinnenverkörpert sieht, und versucht diese Ideen auszulöschen, in dem er die Jüdinnen auslöscht. Der moderne Antisemitismus, der sich aufbauend auf einem jahrhundertealten christlich geprägten Judenhass nicht zufällig im 19. Jahrhundert, also demjenigen der rasanten Industrialisierung Europas, entwickelt hat, trägt viele Züge eines falschen, weil oberflächlichen und ressentimentinduzierten Antikapitalismus. Er personalisiert sich die unpersonale Herrschaft der warenproduzierenden Gesellschaft im Verlangen zurecht, die Bösewichter zu entdecken, die ihm „an allem Schuld“ sind; er phantasiert vom heimtückischen Kampf der verschlagenen Raffgier gegen das Kollektiv der ehrlich Arbeitenden; er wähnt sich zutiefst kritisch, weil er sich eine falsche Frage zurechtgelegt hat, die von seinem völligen Unverständnis des kapitalistischen Prinzips kündet – diejenige nämlich, „wer denn eigentlich das Geld beherrsche“ – und antwortet darauf mit der Gleichsetzung des Juden mit dem Geld. Schlussendlich halluziniert er im Juden den wurzellosen Übermenschen, der mittels seiner Macht über das Geld die Welt beherrscht, „uns alle“ aussaugt und eben deswegen „unser Unglück“ ist. Moderner Antisemitismus ist das voll entfaltete regressiv-antikapitalistische Ressentiment, das die Herrschaft von Markt und Kapital als persönliche Herrschaft bösartiger Menschen phantasiert. Er beginnt mit der Einbildung vom Gegensatz zwischen „Schaffenden und Raffenden“ (auch wenn er andere Worte dafür verwenden mag) und wird er nicht daran gehindert, so tobt er sich früher oder später im Vernichtungswahn gegen die vermeintlich „Schuldigen“ aus , die er mit „den Juden“ identifiziert.

„Ich habe doch gar nicht ‚Jude‘ gesagt.“

Vor allem in Deutschland kommt es nur selten vor, dass jemand wie Kevin Barth, der Vorsitzende der Piratenpartei in Heidenheim, der nach nur wenigen Tagen im Amt zurücktreten musste, öffentlich sagt, dass er „den Juden an sich unsympathisch finde[t]“ (Der Tagesspiegel, 08.02.2012). Abgesehen von ein paar besonders Resistenten hat man natürlich gelernt, dass man so was „nicht sagen darf“, im Zweifel wird eine solche Aussage ja im NS-Nachfolgestaat sogar strafrechtlich relevant. Man weiß sogar, dass das Wort „Antisemitismus“ etwas Negatives ist, mit dem in Verbindung gebracht zu werden als ehrenrührig zu betrachten ist. Zeugnis dessen ist die inzwischen sehr beliebte und monoton heruntergeleierte Behauptung, dass „Antisemitismus“ eine Kampfvokabel sei, die unliebsamen (sich aber selbst als unheimlich rebellisch und aufklärerisch wähnenden) Zeitgenossen gleich einer Keule angedroht oder auch tatsächlich übergezogen werde (gerne wird hier als verdächtig der Zentralrat der Juden genannt, q. e. d.). Da wird behauptet, „Antisemitismus“ werde in politischen Diskursen verwendet als Synonym für „Ich finde eine Person doof und fordere, dass sie von anderen auch doof gefunden werden solle.“ Als Beweis erscheint dann regelmäßig der altkluge Verweis darauf, dass diejenige, deren Reden, Raunen und Ressentimieren als antisemitisch kritisiert wird, doch gar nicht „Jude“ gesagt habe. Weder habe sie gesagt „Ich finde, alle Juden sollen umgebracht werden“, noch habe sie Hitler zu einem guten Mann erklärt. Letztgenanntes, also die Shoa und der Deutschen liebste Projektionsfläche, das „Monster“ Hitler für gut zu erklären, ist den modernen Deutschen „Antisemitismus“.
Es ist vollkommen egal, ob eine Antisemitin „Jude“ sagt oder „Auschwitz“. Ihr Beharren darauf, dass sie selbst gefälligst zu entscheiden habe, ob sie für antisemitische Ressentiments kritisiert werden dürfe, und darauf, dass „Antisemitismus“ nur dann behauptet werden dürfe, wenn in letzter Konsequenz und in großem Stil Jüdinnen vernichtet worden seien, ändert daran nichts. Antisemitisch ist nicht nur die Abneigung gegen Jüdinnen, weil sie Jüdinnen sind. Sondern auch die Abneigung gegen das, was deie Antisemitin in den Jüdinnen verkörpert zu sehen glaubt und was ihr als jüdisch und hassenswert gilt. Es bleibt auch Antisemitismus, wenn sie es vermeidet, das Wort „Jude“ auszusprechen.

Sekundärer Antisemitismus

Wer versucht, sich gegen Kritik seines antisemitischen Geraunes immun zu machen, indem er darauf beharrt, er habe weder das Wort „Jude“ gesagt, noch zur Vernichtung aller Juden aufgerufen, ist häufig ebenso empört über den Begriff des sekundären Antisemitismus. Schon alleine das Attribut „sekundär“ sage doch bereits aus, dass es nicht „wirklich“ Antisemitismus sei. Ohnehin sei die Rede vom sekundären Antisemitismus nur eine weitere Spielart der „Antisemitismuskeule“, mit der „unliebsame Stimmen“ zum Verstummen gebracht werden sollten. Es habe doch aber beim besten Willen mit Judenfeindschaft nichts zu tun, wenn man glaube, „die Juden“ schlügen aus dem Holocaust Gewinn. Doch „den Juden“ anzudichten, sie profitierten von ihrer eigenen Vernichtung, also die Abneigung gegenüber Juden und Jüdinnen nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz, ist Antisemitismus. Als sekundär bezeichnet wird er deshalb, weil er sich eben nicht ‚aus dem Stand‘ gegen Juden richtet. Als solche Judenfeindlichkeit ‚aus dem Stand‘ muss sekundären Antisemiten die Shoa erscheinen: Sie finden ja „schlimm“, was im „Zweiten Weltkrieg“ „geschehen“ ist, aber ohne Begriff vom Antisemitismus muss ihnen die Abneigung gegen Juden, die die Shoa vorbereitete, irgendwie unverständlich und „ungebildet“ vorkommen.
Dem sekundären Antisemitismus jedoch sind die Juden nicht „einfach so“ unsympathisch, sondern er glaubt ja nun etwas „Handfestes“ gefunden zu haben, was man den Juden „tatsächlich“ vorwerfen könne – nämlich im Grunde, dass sie da sind, dass sie die Deutschen an die Taten erinnern, die deren Väter, Großmütter und Urgroßonkel im guten Glauben an eine „gute Sache für die Gemeinschaft“ begangen haben. Dass die Juden den Deutschen „nicht endlich ihre Ruhe lassen“. Und natürlich: dass es einen Staat gibt, der seit 1948 den Juden das Maximum an Schutz bietet, das ein Staat bieten kann. Das alles und noch viel mehr missfällt dem sekundären Antisemitismus und deshalb ist er „den Juden“ abgeneigt. Im Glauben daran, im eingebildeten Unterschied zu seinen Vorgängergenerationen, wissensund kenntnisreich nun „wirklich“ etwas erkannt zu haben, was die Abneigung gegen „die Juden“ „rechtfertige“. Er sieht aber nach wie vor in „den Juden“ sein Unglück, und deshalb ist er selbstverständlich Antisemitismus.

Ein Ressentiment gegen die Freiheit des Individuums

Der Antisemitismus ist ein Ressentiment, eine tiefsitzende Abneigung gegen „die Juden“ und das, was in ihnen identifiziert gesehen wird. Das sind einerseits allerhand Unwahrheit, darunter üble Lügen, wie z. B. hetzerische Schauergeschichten von Ritualmorden, und auch in sich widersprüchlicher hanebüchener Quatsch. Andererseits sieht der Antisemitismus in den Jüdinnen allerdings auch etwas, was historisch durchaus real ist. Die Opposition des Antisemitismus gegen die empirisch mit dem Judentum verknüpften Momente muss ernst genommen und in ihrer Gefährlichkeit deutlich benannt werden. Antisemitismus wendet sich letztlich gegen die Idee individueller Freiheit, gegen das Versprechen der Aufklärung, dass eine jede nach ihrem Gusto ein gutes Leben führen solle und ihren Mitmenschen gleichberechtigt gegenübertreten könne. Ohne Furcht, von Zwangsgemeinschaften, Heimatwahn und anderem Aberglauben vereinnahmt und unterjocht zu werden. In dem Maß, in dem Jüdinnen bedroht sind, ihnen Ressentiment entgegen schlägt und sie um ihr Leben fürchten müssen, ist auch die individuelle Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt bedroht.
Der Traum von der freien Gesellschaft ist brüchig und kann trügerisch sein. Das antisemitische Ressentiment ist alles andere als harmlos. Es kann rücksichtslos bis zum Äußersten gehen und diejenigen, in denen es das sieht, was ihm missfällt, wortwörtlich vernichten und auslöschen. Das ist keine Vermutung oder unangemessene Dramatisierung, sondern eine Gewissheit. Sie braucht keine Rücksicht zu nehmen gegen diejenigen, die sich zwar ihr Mütchen an den Jüdinnen und am jüdischen Staat kühlen wollen, aber sich verbitten, als das bezeichnet zu werden, was sie sind: Antisemit_innen.

[1] Wir verwenden bewusst mehrere geschlechtliche Formen. Gemeint sind immer alle Geschlechter. Siehe dazu auch Gendern?

Literatur und Links:

Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Fischer Taschenbuch Verlag, München, 1986, ISBN 3596238064.
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der IsraelFrage. Albrecht Knaus Verlag, München, 2012, ISBN 9783813504521.
Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. In M. Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen (S. 165 194). Ça ira Verlag, Freiburg, 2005, ISBN 392462733X.
Shulamith Volkov. Antisemitismus als kultureller Code. C.H.Beck, München, 2000, ISBN 9783406421495.
Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hrsg.): Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns. Ça ira Verlag, Freiburg, 2001, ISBN 392462769X.
Initiative Sozialistisches Forum. Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie . Ça ira Verlag, Freiburg, 2002, ISBN 3924627088. Lothar Galow-Bergemann, Audio: Unverstandener Nationalsozialismus – Unverstandener Antisemitismus

 

Siehe zum Thema auch die Flugschriften:

Was ist regressiver Antikapitalismus? Anmerkungen zum Unterschied zwischen Kapitalisten – und Kapitalismuskritik

Was ist Antiimperialismus? Anmerkungen zum Niedergang der Linken

Was ist Antizionismus? Anmerkungen zum Hass auf den Juden unter den Staaten

Was ist Antiamerikanismus? Anmerkungen zur grassierenden Selbstgerechtigkeit

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Eine Flugschrift von Emanzipation und Frieden. Antikapitalismus 2.0
2., überarbeitete Auflage Dezember 2015

Förderverein Emanzipation und Frieden e.V. ■ Postfach 50 11 24 ■ D-70341 Stuttgart ■ www.emanzipationundfrieden.de Kontakt: info@emanzipationundfrieden.de
Volksbank Stuttgart eG
IBAN: DE40 6009 0100 0472 9120 03 BIC: VOBADESS Ihre Spende ist steuerlich absetzbar.

Lesen Sie die Flugschrift hier im Lay out: Was ist Antisemitismus?

 

Höhere Mächte sind auch keine Erlösung

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Zur Konjunktur des Glaubens an „höhere Mächte“ in Zeiten der Krise

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Montag, 29. Februar 2016, 19.30 Uhr, Hamburg                                                            Infoladen Wilhelmsburg

Was verbindet so unterschiedliche Leute wie die reinkarnationsgläubige Waldorflehrerin, den selbstbewussten Kämpfer gegen gierige Bankster, die esoterisch angehauchte Bioladendauerkundin, den missionarischen Salafisten, die treue Kirchgängerin, den sonnwendfeiernden Neonazi, die eifrige Streiterin wider die Weltverschwörung der Bilderberg-Konferenz, den homophoben Rastafarian, die aus ihrem Krafttier Energie schöpfende Schamanin, den spirituelle Erlösung suchenden Insassen einer Yoga-Lebensgemeinschaft, den Hirtenworte verkündenden Bischof und die einer Verdünnung von 1:1 000 000 000 000 000 000 000 000 vertrauende grüne Stadtverordnete, die sich für eine kritische Verbraucherin hält?

Es ist der Glaube, ihr Wohl und Wehe hinge vom Walten höherer Mächte ab. Die einen verehren sie, die anderen fürchten sie. Die einen werfen sich ihnen wacker entgegen, die andern unterwerfen sich ihnen lustvoll. Die einen sind sanftmütig, die andern kochen vor Wut. Die einen sind religiös, die anderen atheistisch, die einen unpolitisch, die anderen hochpolitisch, die einen rechts, die anderen links. Und doch verbindet sie mehr als sie trennt: Der Hang zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen, das wohlige Gefühl, zur Gemeinschaft der Erleuchteten zu gehören und eine ausgeprägte Kritikresistenz.

Zeiten, in denen sich der krisenhafte Zustand der Welt herumgesprochen hat und Unsicherheit und Zukunftsängste um sich greifen, sind gute Zeiten für einfache Botschaften. Wo sich Demut statt Vernunft, Wut statt Kritik und Glauben-wollen statt Wissen-wollen durchsetzen, herrschen Denkfaulheit, Regression und Irrationalität. Doch nicht genug: Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen ist immer auch die nach starken Führern, die heutzutage gerne auch mal Führerinnen sein dürfen, wenn sie nur Halt und Orientierung versprechen.

Was muss emanzipatorische Kritik leisten, die sich weder mit der kapitalistischen Krise noch mit ihrer regressiven Verarbeitung in den Köpfen abfinden will und die am Ideal einer Gesellschaft freier Menschen in freien Vereinbarungen festhält?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. für konkret, Jungle World und emafrie.de

Zur Psychologie des Islamischen Staates

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Vortrag und Diskussion mit Felix Riedel

Donnerstag, 17. März 2016, 19.30 Uhr, Stuttgart                                                          Stiftung Geißstr.7, Geißstr.7, 70173 Stuttgart

Der Islamische Staat hat die Barbarei weder erfunden noch auf neue Gipfel getrieben – das Köpfen, die Massenerschießungen, die ethnische Säuberung, das sind altbekannte Gespenster der bürgerlichen Revolutionen, der faschistischen Regimes, der demokratischen Peripherien in Übersee, ohnehin der anderen islamischen Staaten. Auch die Sklaverei ist eine globale und insbesondere in der islamischen Welt bereits vorher häufige Erscheinung.
Das Neue an der Praxis des Islamischen Staates, und damit seiner Psychologie, lässt sich in der historischen, dialektischen Situation bestimmen, in der er gedeiht. Das Globale ist das Reformistische am Islamismus, Resultat der Lücke, die der Untergang des kommunistischen Projekts in den Millionenmorden der stalinistischen Diktaturen hinterließ. Die Demokratien des Westens vermögen eine solche Einheit, wie sie der tote Kommunismus und der Islam versprechen, nicht einzuholen, weil sie das individuelle Glücks- und Freiheitsversprechen der kapitalistischen Entrepreneurs und der globalen Besserverdienenden nicht in ein allgemeines verwandeln können. Die eigentliche Pathologie des Islamischen Staates heute ist mit der der bürgerlichen Demokratien vermittelt: Ihre Schwäche, die zum Zuschlagen reizt, ihre unfassbaren Widersprüche, die den Salafisten so vieles am Islamischen Staates logischer, klarer und einfacher erscheinen lassen. Eine komplementäre, dialektische Analyse der psychologischen Faktoren des Islamischen Staates erfordert die Reflexion auf vergleichbare Prozesse in den bürgerlichen Demokratien. Erst dann lässt sich über die Faszination am Abschneiden, am Voyerismus, am Ornament der schwarzbeflaggten Masse sprechen. Die sado-masochistische Kollaboration von Frauen an ihrer eigenen Zurichtung zu Objekten, die homoerotische Organisation der Männerbanden und ihre femininen Attribute verweisen auf die verdrängte Homosexualität als zentrale Triebkraft der Gewalt, auf Mutterhass und damit als Hass auf den Triebkonflikt selbst, auf den Wunsch nach narzisstischer Auflösung und Reinheit (Grunberger/Dessuant). Der islamische Staat selbst ist bereits eine Reduktion des Salafismus auf den Takfirismus, die Legitimation zum Mord an Andersdenkenden. Dieser extreme Dogmatismus ist ein alter Bekannter der Religionsgeschichte und kann mit Theodor Reik als Resultat des Zweifels, des ungeglaubten Glaubens (Adorno/Horkheimer), und letztlich als Effekt des andauernden, religiöse Stilblüten treibenden, Tod-Gottes-Problems erklärt werden.

Felix Riedel ist Ethnologe (Dr. phil.) und hat über moderne Hexenjagden promoviert. Er führt das Blog „Nichtidentisches“ und arbeitet zur Gewaltanthropologie insbesondere des Islamismus und des Antisemitismus.  felixriedel.net

Eine Veranstaltung von Contain’t und Emanzipation und Frieden in Kooperation mit der Stiftung Geißstraße 7

Audio: Höhere Mächte sind auch keine Erlösung

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Zur Konjunktur des Glaubens an „höhere Mächte“ in Zeiten der Krise

Vortrag von  Lothar Galow-Bergemann

gehalten am 29. Februar 2016 in Hamburg

Was verbindet so unterschiedliche Leute wie die reinkarnationsgläubige Waldorflehrerin, den selbstbewussten Kämpfer gegen gierige Bankster, die esoterisch angehauchte Bioladendauerkundin, den missionarischen Salafisten, die treue Kirchgängerin, den sonnwendfeiernden Neonazi, die eifrige Streiterin wider die Weltverschwörung der Bilderberg-Konferenz, den homophoben Rastafarian, die aus ihrem Krafttier Energie schöpfende Schamanin, den spirituelle Erlösung suchenden Insassen einer Yoga-Lebensgemeinschaft, den Hirtenworte verkündenden Bischof und die einer Verdünnung von 1:1 000 000 000 000 000 000 000 000 vertrauende grüne Stadtverordnete, die sich für eine kritische Verbraucherin hält?

Es ist der Glaube, ihr Wohl und Wehe hinge vom Walten höherer Mächte ab. Die einen verehren sie, die anderen fürchten sie. Die einen werfen sich ihnen wacker entgegen, die andern unterwerfen sich ihnen lustvoll. Die einen sind sanftmütig, die andern kochen vor Wut. Die einen sind religiös, die anderen atheistisch, die einen unpolitisch, die anderen hochpolitisch, die einen rechts, die anderen links. Und doch verbindet sie mehr als sie trennt: Der Hang zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen, das wohlige Gefühl, zur Gemeinschaft der Erleuchteten zu gehören und eine ausgeprägte Kritikresistenz.

Zeiten, in denen sich der krisenhafte Zustand der Welt herumgesprochen hat und Unsicherheit und Zukunftsängste um sich greifen, sind gute Zeiten für einfache Botschaften. Wo sich Demut statt Vernunft, Wut statt Kritik und Glauben-wollen statt Wissen-wollen durchsetzen, herrschen Denkfaulheit, Regression und Irrationalität. Doch nicht genug: Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen ist immer auch die nach starken Führern, die heutzutage gerne auch mal Führerinnen sein dürfen, wenn sie nur Halt und Orientierung versprechen.

Was muss emanzipatorische Kritik leisten, die sich weder mit der kapitalistischen Krise noch mit ihrer regressiven Verarbeitung in den Köpfen abfinden will und die am Ideal einer Gesellschaft freier Menschen in freien Vereinbarungen festhält?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. für konkret, Jungle World und emafrie.de

Audio: Demokratie oder Volksherrschaft?

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Warum die Verhältnisse nicht besser werden, wenn das Ressentiment mehrheitsfähig ist.

von Lothar Galow-Bergemann

Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten am 3. November 2015 in Leipzig

Versteht man „Demokratie“ lediglich im Wortsinne, nämlich als „die
Herrschaft des Volkes“, so muss einem davor grausen. Schließlich hätte
dann der Nationalsozialismus, der das Fühlen, Denken und Wollen einer
großen Mehrheit der Deutschen repräsentierte, das Prädikat demokratisch
verdient. Der leidlich funktionierende demokratische Staat aber zeichnet
sich gerade dadurch aus, dass er unveräußerliche Rechte von Einzelnen
und Minderheiten garantiert.

Gegen die Krise der Demokratie wird mehr „direkte Demokratie“
gefordert. Doch ob „Ausländer“ rausgeworfen, Minarettbauten verboten
oder Schulreformen verhindert werden sollen – bessere Verhältnisse
schafft die „Stimme des Volkes“ kaum. Solange die selbstgerechte
Gemeinschaft der „ehrlich Arbeitenden und Betrogenen“ ihr Mütchen an
vermeintlich „Faulen“ oder „Gierigen“ kühlen mag und Ressentiment
landauf landab mit Kritik verwechselt wird, ist „dem Volk“ grundsätzlich
zu misstrauen. Was geht in Menschen vor, die zwar gegen einen
Bahnhofsneubau Sturm laufen, nicht aber gegen die Rente mit 67 – obwohl
sie unter dieser vermutlich wesentlich mehr zu leiden haben werden als
unter jenem? Und ist es ein Zufall, dass einem die Forderung nach
Volksabstimmungen umso häufiger begegnet, je weiter man sich im
politischen Spektrum nach rechts bewegt?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. in konkret, Jungle World und auf emafrie.de

 

Audio: Aufstehen gegen die Unmenschlichkeit. Für Demokratie. Gegen Volksherrschaft.

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Aus Anlass der Landtagswahlen vom 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt

von Lothar Galow-Bergemann

 

Über ein Siebtel aller Wählenden, fast eineinhalb Millionen Menschen, haben in drei Bundesländern die nationalistische, völkische, rassistische und antisemitische AfD gewählt. Wie viele Millionen werden es nächstes Jahr bei der Bundestagswahl tun? Der kometenhafte Aufstieg der AfD ist undenkbar ohne die Karriere des Wortes „Flüchtlingskrise“. Doch dieses Wort verschleiert die gesellschaftliche Wirklichkeit. Tatsache ist: Immer mehr Leute in Deutschland und Europa werfen die Maske von Anstand und Menschlichkeit über Bord. Und das nur, weil ein kleiner Bruchteil der Opfer von Terror, Krieg und Elend in der reichsten Region der Welt Schutz sucht. Nicht die Fliehenden verursachen die Krise. Das tun diejenigen, die angesichts einer Herausforderung, die nüchtern betrachtet leicht zu schultern wäre, seit Monaten nur noch ausrasten. Illusionen sind fehl am Platz. Wer AfD gewählt hat, wusste von der rassistischen Hetze, wusste von den Schießbefehl-Parolen. Diese Partei wurde nicht trotzdem, sondern gerade deswegen gewählt. Der Erfolg der AfD ist Ausdruck der verbreiteten Haltung „Sollen die doch verrecken, Hauptsache unsere Turnhalle ist auf.“ Einige brüllen es heraus, viele hüsteln und schweigen, noch mehr gestehen sich selbst nicht ein, dass ihre Haltung darauf hinausläuft. In der Wahlkabine sind sie alle eins.

Dieses Wahlergebnis gibt der Unmenschlichkeit weiteren Auftrieb. Es wird noch mehr Anschläge auf Flüchtlingsheime geben. Nazis werden noch offener und brutaler auftreten. Macker, die sich scheinheilig über „Köln“ aufregen und zuhause ihre Frauen und Kinder verprügeln, spüren Aufwind. Noch mehr werden sich trauen, gegen Homosexuelle zu hetzen. Noch lauter wird eingefordert werden, etwas gegen Juden haben zu dürfen. Man sollte sich nicht täuschen. Das Potential der Barbarei ist noch weitaus größer als es die Wahlergebnisse offenbaren. Steigt beim nächsten mal die Wahlbeteiligung weiter, ist noch Schlimmeres zu befürchten. Es ist kein Zufall, dass Volksabstimmungen heute vorwiegend von rechts gefordert werden. Es hat Methode, dass AfD-Funktionäre ständig von Demokratie reden. Denn der Angriff auf den Rechtsstaat wird heute unter dem Banner der Demokratie geführt. Die Losung der „direkten Demokratie“ wird zum Kampfprogramm gegen Humanität und Menschenrechte. Doch die Verhältnisse werden nicht besser, wenn das Ressentiment mehrheitsfähig ist. Versteht man „Demokratie“ nämlich lediglich im Wortsinne, also als „die Herrschaft des Volkes“, so muss einem davor grausen. Schließlich hätte dann der Nationalsozialismus, der das Fühlen, Denken und Wollen einer großen Mehrheit der Deutschen repräsentierte, das Prädikat demokratisch verdient. Der leidlich funktionierende demokratische Rechtsstaat hingegen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er unveräußerliche Rechte von Einzelnen und Minderheiten garantiert – mag die Mehrheit denken und wollen, was sie will. Antisemitischer, rassistischer, nationalistischer und sexistischer Hass richtet sich immer auch gegen den Rechtsstaat. Er ist denen ein Dorn im Auge, die an den gehassten „Anderen“ ihr Mütchen kühlen wollen.
Aus dem katastrophalen Untergang der Weimarer Republik ist zu lernen. Bürgerliche Demokratie und Rechtsstaat sind zu verteidigen. Auch und gerade von denen, die an einer wirklichen Emanzipation von Staat, Nation und Kapital festhalten, obwohl derzeit leider keine realistischen Aussichten bestehen, die Verhältnisse grundlegend zum Bessern zu wenden. Neben der Verbreitung einer reflektierten, also wirklichen Kapitalismuskritik ist Zivilcourage am wichtigsten. Der Unmenschlichkeit jeden Tag kompromisslos entgegentreten. Dort, wo Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit aus den Mündern quellen. Ein Klima schaffen, das den Dreck moralisch diskreditiert, ihn lächerlich macht und möglichst viele Menschen dagegen immunisiert. Leuten auf die freundliche Tour übers Maul fahren. Am Arbeitsplatz, in der Uni, auf der Straße, in der Kneipe, im Kino, im Supermarkt und in der Straßenbahn.

Ausführlicher siehe dazu:
Audio: Demokratie oder Volksherrschaft? Warum die Verhältnisse nicht besser werden, wenn das Ressentiment mehrheitsfähig ist. Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten am 3. November 2015 in Leipzig


Höhere Mächte sind auch keine Erlösung

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Zur Konjunktur des Glaubens an „höhere Mächte“ in Zeiten der Krise

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Montag, 4. April 2016, 20 Uhr, Bielefeld                                                                          Extra Blues Bar
Veranstaltet von ag freie bildung im Rahmen des Roten Montag

Was verbindet so unterschiedliche Leute wie die reinkarnationsgläubige Waldorflehrerin, den selbstbewussten Kämpfer gegen gierige Bankster, die esoterisch angehauchte Bioladendauerkundin, den missionarischen Salafisten, die treue Kirchgängerin, den sonnwendfeiernden Neonazi, die eifrige Streiterin wider die Weltverschwörung der Bilderberg-Konferenz, den homophoben Rastafarian, die aus ihrem Krafttier Energie schöpfende Schamanin, den spirituelle Erlösung suchenden Insassen einer Yoga-Lebensgemeinschaft, den Hirtenworte verkündenden Bischof und die einer Verdünnung von 1:1 000 000 000 000 000 000 000 000 vertrauende grüne Stadtverordnete, die sich für eine kritische Verbraucherin hält?

Es ist der Glaube, ihr Wohl und Wehe hinge vom Walten höherer Mächte ab. Die einen verehren sie, die anderen fürchten sie. Die einen werfen sich ihnen wacker entgegen, die andern unterwerfen sich ihnen lustvoll. Die einen sind sanftmütig, die andern kochen vor Wut. Die einen sind religiös, die anderen atheistisch, die einen unpolitisch, die anderen hochpolitisch, die einen rechts, die anderen links. Und doch verbindet sie mehr als sie trennt: Der Hang zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen, das wohlige Gefühl, zur Gemeinschaft der Erleuchteten zu gehören und eine ausgeprägte Kritikresistenz.

Zeiten, in denen sich der krisenhafte Zustand der Welt herumgesprochen hat und Unsicherheit und Zukunftsängste um sich greifen, sind gute Zeiten für einfache Botschaften. Wo sich Demut statt Vernunft, Wut statt Kritik und Glauben-wollen statt Wissen-wollen durchsetzen, herrschen Denkfaulheit, Regression und Irrationalität. Doch nicht genug: Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen ist immer auch die nach starken Führern, die heutzutage gerne auch mal Führerinnen sein dürfen, wenn sie nur Halt und Orientierung versprechen.

Was muss emanzipatorische Kritik leisten, die sich weder mit der kapitalistischen Krise noch mit ihrer regressiven Verarbeitung in den Köpfen abfinden will und die am Ideal einer Gesellschaft freier Menschen in freien Vereinbarungen festhält?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. für konkret, Jungle World und emafrie.de

 

Audio: Zur Psychologie des Islamischen Staates

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Vortrag von Felix Riedel

gehalten am 17. März 2016 in Stuttgart

Der Islamische Staat hat die Barbarei weder erfunden noch auf neue Gipfel getrieben – das Köpfen, die Massenerschießungen, die ethnische Säuberung, das sind altbekannte Gespenster der bürgerlichen Revolutionen, der faschistischen Regimes, der demokratischen Peripherien in Übersee, ohnehin der anderen islamischen Staaten. Auch die Sklaverei ist eine globale und insbesondere in der islamischen Welt bereits vorher häufige Erscheinung.
Das Neue an der Praxis des Islamischen Staates, und damit seiner Psychologie, lässt sich in der historischen, dialektischen Situation bestimmen, in der er gedeiht. Das Globale ist das Reformistische am Islamismus, Resultat der Lücke, die der Untergang des kommunistischen Projekts in den Millionenmorden der stalinistischen Diktaturen hinterließ. Die Demokratien des Westens vermögen eine solche Einheit, wie sie der tote Kommunismus und der Islam versprechen, nicht einzuholen, weil sie das individuelle Glücks- und Freiheitsversprechen der kapitalistischen Entrepreneurs und der globalen Besserverdienenden nicht in ein allgemeines verwandeln können. Die eigentliche Pathologie des Islamischen Staates heute ist mit der der bürgerlichen Demokratien vermittelt: Ihre Schwäche, die zum Zuschlagen reizt, ihre unfassbaren Widersprüche, die den Salafisten so vieles am Islamischen Staates logischer, klarer und einfacher erscheinen lassen. Eine komplementäre, dialektische Analyse der psychologischen Faktoren des Islamischen Staates erfordert die Reflexion auf vergleichbare Prozesse in den bürgerlichen Demokratien. Erst dann lässt sich über die Faszination am Abschneiden, am Voyerismus, am Ornament der schwarzbeflaggten Masse sprechen. Die sado-masochistische Kollaboration von Frauen an ihrer eigenen Zurichtung zu Objekten, die homoerotische Organisation der Männerbanden und ihre femininen Attribute verweisen auf die verdrängte Homosexualität als zentrale Triebkraft der Gewalt, auf Mutterhass und damit als Hass auf den Triebkonflikt selbst, auf den Wunsch nach narzisstischer Auflösung und Reinheit (Grunberger/Dessuant). Der islamische Staat selbst ist bereits eine Reduktion des Salafismus auf den Takfirismus, die Legitimation zum Mord an Andersdenkenden. Dieser extreme Dogmatismus ist ein alter Bekannter der Religionsgeschichte und kann mit Theodor Reik als Resultat des Zweifels, des ungeglaubten Glaubens (Adorno/Horkheimer), und letztlich als Effekt des andauernden, religiöse Stilblüten treibenden, Tod-Gottes-Problems erklärt werden.

Felix Riedel ist Ethnologe (Dr. phil.) und hat über moderne Hexenjagden promoviert. Er führt das Blog „Nichtidentisches“ und arbeitet zur Gewaltanthropologie insbesondere des Islamismus und des Antisemitismus.  felixriedel.net

Eine Veranstaltung von Contain’t und Emanzipation und Frieden in Kooperation mit der Stiftung Geißstraße 7

Heuschrecken, Gier und Weltverschwörung

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Regressiver Antikapitalismus und das antisemitische Ressentiment

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Mittwoch, 20. April 2016, 20 Uhr, Freiburg
Hörsaal 1016, Kollegiengebäude 1, Uni Freiburg

Eine Veranstaltung des Referats gegen Antisemitismus der Studierendenvertretung an der Uni Freiburg

Geht es gegen Banken und „die Finanzmärkte“, sind sich fast alle einig: Parteipolitiker, Gewerkschaften, Linke, Rechte, diverse Verschwörungsphantasten und wer sonst alles in Krisenzeiten das Wort ergreift. Alle miteinander halten sie “die Gierigen, die den Hals nicht voll genug kriegen” für die Verursacher der Krise. Auch manch vermeintlich radikaleR KapitalismuskritikerIn findet sich da in trauter Eintracht mit Finanzminister, Fernseher und Frau Meier wieder. Wenn es gegen die „Zirkulationssphäre“ geht, entstehen sonderbar anmutende Schulterschlüsse.
Die verbreitete Gewissheit, dass „die da oben an allem schuld sind“ entspringt einem unreflektierten Bauch-Antikapitalismus, der Gesellschaftskritik mit Wut auf „gierige Bankster“, „Lügenpack“ und „Lügenpresse“ verwechselt. Doch die Aufspaltung des kapitalistischen Prinzips in „produktives Kapital“ auf der einen und „das Finanzkapital“ auf der anderen Seite leistet einer Dämonisierung des Finanzsektors Vorschub, die mal mehr, mal weniger bewusst auf antisemitische Stereotype zurückgreift. Blind dafür, was der Wahn vom “Kampf der ehrlich Arbeitenden” gegen die “Gierigen, die die Völker aussaugen” schon einmal angerichtet hat, sehnen sich viele nach einfachen Antworten. Das macht sie anfällig für allerlei Demagogisches und Autoritäres – ein auffälliger Kontrast zum allgegenwärtigen deutschen Credo, man habe aus der Geschichte gelernt.

Lothar Galow-Bergemann war freigestellter Personalrat in zwei Großkliniken. Heute schreibt er u.a. in konkret, Jungle World und auf www.emafrie.de.

 

Frauenhirne – wie ideologischer Unsinn zur wissenschaftlichen Tatsache wird

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Vortrag und Diskussion mit Christine Zunke

Donnerstag, 28. April 2016, 19:30 Uhr, Stuttgart                                                           „BASIS“, Hauptstätter Str. 41, 70173 Stuttgart

Dass Frauen anders sind, ist allgemein bekannt. Und dass dies nicht gesellschaftliche, sondern natürliche Ursachen habe und die soziale Verschiedenheit der Geschlechter eine Folge der biologischen Unterschiede sei, möchten viele gern glauben. Die Naturwissenschaft hilft hierbei, indem sie bestimmte Verhaltensweisen durch entsprechende Ursachen im Hormonhaushalt und insbesondere im Gehirn zu erklären versucht. Am Beispiel des Buches von S. Baron-Cohen „Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn“ soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie das vorgegebene Resultat der sozialen Geschlechtsdifferenz sich schon in den Prämissen der Forschung findet, wie Ursache und Wirkung des Wechselspiels von Handlung und gemessener Hirnaktivität sich verkehren und wie schließlich aufgrund nicht-geschlechtskonformen Verhaltens einzelner Proband_innen die Genderzugehörigkeit des Gehirns sich vom Sexus des Körpers trennen muss, um das Dogma des spezifisch weiblichen und männlichen Verhaltens aufrecht erhalten zu können.

Christine Zunke ist Mitbegründerin der Forschungsstelle kritische Naturphilosophie (FkN) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, wo sie als Dozentin arbeitet. http://cdzunke.de

Eine Veranstaltung von Contain’t und Emanzipation und Frieden

siehe auch auf Facebook

 

[neu erschienen]: Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik

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Kritik ja! Aber woran?                                                                                                     Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik                                

mit Birgit Rommelspacher Professorin (em.) für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Lothar Galow-Bergemann & Markus Mersault, beide aktiv bei Emanzipation und Frieden und Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler und Aktivist (Bundeskongress Internationalismus, Informationsstelle Militarisierung)                                                        erschienen in iz3w – informationszentrum 3.welt Nr. 323 März/April 2011                    jetzt neu erschienen in Pastinaken Raus! – Ein Handbuch, Herausgeber Matthias Weinzierl, Till Schmidt, Bayerischer Flüchtlingsrat, www.hinterland-magazin.de, München 2016, Seite 158 – 171 

„Damit Kritik nicht hilflos ihrem Gegenstand gegenübersteht, bedarf es der Arbeit an und mit Begriffen, die jenem Gegenstand gerecht werden und seine wesentlichen Elemente auch tatsächlich benennen. Wir sprechen daher vom antimuslimischen Ressentiment statt von Rassismus, weil wir glauben dass spezifische Ressentiments gegen Menschen existieren, die als Muslime identifiziert werden. Wer sich die antimuslimische Internetplattform „Politically Incorrect“ oder den Verein „Bürgerbewegung Pax Europa“ anschaut, wird dem zustimmen müssen. Es lassen sich auch traditionell rassistische Elemente ausmachen, etwa die imaginierte Minderwertigkeit von Moslems, die sich auf ein vormaliges oder gegenwärtiges Produktivitätsgefälle beruft. Aber zugleich weisen antimuslimische Ressentiments über rassistische Elemente hinaus, wenn sie – um nur zwei Spezifika zu nennen – in verschwörungsphantasierendem Duktus sich vor der „Gebärmutter als Waffe des Islam“ fürchten und die westliche Gesellschaft vor islamischer Überflutung und Unterjochung retten wollen. Zwar gibt es in der islamischen Welt tatsächlich weltherrschaftliche Ansprüche und Morde an Ungläubigen, doch längst nicht jede islamische Strömung sympathisiert mit ihnen oder agiert gar in ihrem Sinn. Zum anderen manifestiert sich im antimuslimischen Ressentiment, wie es in Deutschland kursiert, die gescheiterte Vergangenheitsbewältigung. Es bietet Entlastung, indem es Deutschen eine moralische Sanierung ermöglicht: Die Benennung des auch in der islamischen Welt virulenten Antisemitismus dient dem Zweck, das absolut Böse woanders auszumachen und so die deutsche Identität zu rehabilitieren. Auch erscheinen die Deutschen nunmehr als moderne Opfer an der Seite der wahren Opfer, nämlich der Juden. Beide Elemente finden sich im Rassismus typischerweise nicht. Der Begriff des antimuslimischen „Rassismus“ erzeugt aber gerade durch seine inflationäre Verwendung das Bild eines raumzeitidentischen Phänomens, das der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse nicht gerecht wird.“ Zum vollständigen Text 

 

 

AntiBa – der Barbarei entgegentreten! Antifaschismus in Zeiten von AfD und Djihadismus.

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Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Mittwoch, 1. Juni 2016, 20.00 Uhr, Nürnberg                                                    Künstlerhaus im KunstKulturQuartier – Zentralcafé, Königstr.93                                   Eine Veranstaltung in Kooperation mit Das Schweigen durchbrechen

Donnerstag, 2. Juni 2016, 19.00 Uhr, Regensburg                                                    Antifa Cafe, LiZe, Dahlienweg 2a

Freitag, 3. Juni 2016, 20.00 Uhr, Passau                                                              frei*raum, Innstraße 18-20

Seit zwei Jahren explodieren Dumpfbackentum, Ressentiment und Barbarei. Im Sommer 14 skandierten Massenaufmärsche „Tod den Juden!“. Organisiert wurden sie von Islamisten, Nazis und Linksreaktionären, deren antisemitischer Hass gegen Israel sie zusehends zusammenführt. Weltweit und in Europa häufen sich djihadistische Terroranschläge auf Juden und jüdische Einrichtungen, auf Symbole von Religionskritik, Meinungs- und Redefreiheit und auf Menschen, die einfach nur ihr Leben genießen oder feiern wollen. Die Reaktion darauf ist oft grotesk und macht wechselweise entweder „den Islam“ oder „den Westen“ für den Djihadimus verantwortlich. Viele verweigern sich ideologiekritischer Analyse, weil sie andernfalls ihr eigenes Ressentiment hinterfragen müssten. Auch in Deutschland erzielen Rechtsreaktionäre erschreckende Wahlerfolge. Ein rassistischer und gewalttätiger Mob agiert gegen MuslimInnen und Flüchtlinge und erfreut sich klammheimlicher bis offener Zustimmung der „Mitte der Gesellschaft“. Der Wahnsinn marschiert.

Antifa, das ist ihr unschätzbares Verdienst, will in Zeiten, in denen leider keine Aussicht besteht, die Verhältnisse grundsätzlich zum Tanzen zu bringen, wenigstens den allerschlimmsten und barbarischsten Kräften in den Weg treten. So wichtig es bleibt, sich offenen Nazis entgegenzustellen – es liegt auf der Hand, dass der Kampf gegen sie allein nicht mehr ausreicht. Stiefel- und Nadelstreifennazis wie auch den Rest der AfD-Wählerschaft verbindet trotz des äußerlichen Gegensatzes im Kern eine enge Seelenverwandtschaft mit Djihadisten. Wer um ein Minimum an Menschenwürde und um Mindestvoraussetzungen für eine irgendwann vielleicht doch noch gelingende Emanzipation kämpfen will, muss sich der anschwellenden Front der Barbarei in all ihren Facetten entgegenstellen. Vor welchen Herausforderungen theoretischer wie praktischer Art steht Antifaschismus heute? Wie hilfreich und wie problematisch ist die so genannte „Islamdebatte“? Können Begriffe wie „Islamismus“, „Islamophobie“ oder “Islamkritik“ die Problemlage erfassen? Warum ist eine konservativ-orthodoxe Interpretation der Religion in muslimischen Communities so stark präsent? Ist die Rede von „dem“ Islam zutreffend, der im Gegensatz zu „dem“ Christentum Humanität und Säkularität ausschließe? Welches Entwicklungspotential hat die AfD? Wie ist ein emanzipatorischer Anspruch inmitten einer zunehmend verrückter werdenden Umgebung aus moslemhassenden Sarrazindeutschen, tatsachenresistenten Linken, Nazis und Djihadisten zu formulieren? Wie kann er praktisch werden?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. in Jungle World, konkret und auf www.emafrie.de

 

Projektionen für Dummies

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Warum Psychoanalyse für eine Kritik des Antisemitismus unabdingbar ist

von Markus Textor

Bei einem kürzlich stattgefundenen Vortrag über modernen Antisemitismus konnte mal wieder beobachtet werden, dass es immer noch Widerstände dagegen gibt, Antisemitismus mit Hilfe der Psychoanalyse zu verstehen. Nach dem Vortrag häuften sich einerseits die erwartbaren Fragen, was denn Israel in diesem Vortrag über Antikapitalismus zu suchen habe. Die anderen Fragen bezogen sich gezielt auf die psychoanalytische Terminologie des Referenten, der Antisemitismus gelegentlich als wahnhaft und als Paranoia bezeichnete. Einige der Zuhörenden zeigten sich irritiert und bezweifelten, dass Antisemitismus etwas mit Wahn oder Paranoia zu tun haben könnte. Sie baten den Referenten mehrmals um eine genaue Beschreibung des Wahns und vermochten nicht zu glauben, dass Antisemitismus auch psychoanalytisch und nicht nur soziologisch gedacht werden kann.

Die Veranstaltung zeigte: Auch wenn das Thema ein alter Hut sein dürfte, gibt es immer noch Menschen, die denken, Psychoanalyse und Antisemitismus hätten nichts miteinander zu tun. Einige denken auch, wer sich auf ein psychoanalytisches Konzept bezieht, gehöre selbst auf die Couch. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn wer Antisemitismus wirklich verstehen will, kommt um ein wenig psychoanalytische Literatur nicht herum1.

Dass der Antisemitismus auf falscher Projektion beruht2 ist mittlerweile fast schon eine Binsenweisheit unter Anhängern der Frankfurter Schule. Doch was genau ist eigentlich eine Projektion?

Ein bekanntes Beispiel für eine klassische Projektion in einer romantischen Zweierbeziehung (RZB) ist die Eifersucht.

Ein Ehemann3 ist notorisch eifersüchtig und verbietet seiner Partnerin Kontakte zu anderen Männern oder spioniert ihr hinterher. Der projektive Aspekt an dieser Form der Eifersucht, die freilich noch viele andere Gründe haben kann, ist in psychoanalytischer Lesart, dass der Ehemann womöglich selbst den Wunsch hat, außerhalb der Ehe zu begehren. Anstatt seiner Lust nachzugehen, verbleibt diese im Verborgenen und wird auf die Ehefrau übertragen, auch wenn diese womöglich gar keine Absichten hat, sexuelle Erfahrungen jenseits der Ehe zu machen.

Hier fungiert die Projektion als Abwehrmechanismus des psychischen Apparats. Er wehrt die libidinösen Gefühle ab, weil diese nicht der geltenden Moral entsprechen, einem gesellschaftlichen Tabu unterliegen und im Verborgenen bleiben müssen. Diese Denkfigur verbleibt in der psychoanalytischen Reflexion jedoch nicht auf der Ebene der Zweierbeziehungen, sondern lässt sich auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen.

Sigmund Freud arbeitete bereits in seinem frühen Werk „Totem und Tabu“ heraus, dass der Abwehrmechanismus der Projektion nicht lediglich auf eine interaktive Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen bezogen sein muss, sondern auch ihren gesellschaftlichen Zweck erfüllt, indem sie maßgeblich an der Gestaltung unserer Außenwelt beteiligt ist: „Aber die Projektion ist nicht für die Abwehr geschaffen, sie kommt auch zustande, wo es keine Konflikte gibt. Die Projektion innerer Wahrnehmung nach außen ist ein primitiver Mechanismus, dem z.B. auch unsere Sinneswahrnehmungen unterliegen, der also an der Gestaltung unserer Außenwelt normalerweise den größten Anteil hat“4. Freud erkennt das Problem der Projektionen auf der gesellschaftlichen Ebene, indem er argumentiert: „Unter noch nicht genügend festgestellten Bedingungen werden innere Wahrnehmungen nach außen projiziert, zur Ausgestaltung der Außenwelt verwendet, während sie der Innenwelt verbleiben sollten“5.

In ihrer Antisemitismusanalyse beziehen sich Horkheimer und Adorno reflexiv auf die psychoanalytische Abwehrfunktion der Projektion und erarbeiten anhand derselben das Konzept der „falschen Projektionen“6: „Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer“7. „Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs8 projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikationen mit dem Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr“9.

Horkheimer und Adorno gehen sogar davon aus, dass letztendlich alles Wahrgenommene auf Projektionen beruht und verweisen dabei auf die menschliche Vorzeit: „[…] ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegungen reagierten, unabhängig von der Absicht des Objekts“10. Bezüglich der gesellschaftlichen Komponente der Projektion kommen sie zum Schluss, dass antisemitische Projektionen falsche bzw. pathische Projektionen sind. Im Gegenzug zur klassischen Projektion bleibt in der falschen Projektion jegliches reflexive Moment des Subjekts aus: „Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexionen darin“11.

Birgit Rommelspacher arbeitet treffend heraus, dass sich der Antisemitismus in Anbetracht seiner Erscheinungsform vom kolonialen Rassismus12 dahingehend unterscheidet, dass er bei psychoanalytischer Lesart, „[…] eher von Über-Ich-Projektionen genährt wird“13. Während im Kolonialrassismus stärker Es-Projektionen, wie übertriebene Triebhaftigkeit, sexuelles Verlangen oder Aggressivität dominant sind, wird den Jüdinnen und Juden ein „[…] Zuviel an Intelligenz, Reichtum und Macht […]14 zugeschrieben. Während der christliche Antijudaismus vor allem religiöser Art ist, funktioniert der moderne Antisemitismus mit Zuschreibungen, die den Juden eine Allmacht zuschreibt, eine Allmacht, die das kleine Kind bei der Begegnung mit seinen Eltern, der zentralen Prägungsstätte seines Über-Ichs, zum ersten Mal kennenlernt. Die Adaption dieser Über-Ich-Projektion auf die gesellschaftliche Ebene ist eine Funktionsweise des modernen Antisemitismus und zeigt sich, „[…] indem ‚die‘ Juden für nahezu alle gesellschaftlichen Probleme und internationale Konflikte verantwortlich gemacht werden. Dabei wird ihnen mithilfe von Verschwörungstheorien unbegrenzte Macht zugeschrieben“15 .

Horkheimer und Adorno betonen, dass die Projektion auf die Juden ein Produkt der „falschen gesellschaftlichen Ordnung aus sich heraus“ bedeutet: „Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis“16. Sie vergleichen das System des Antisemitismus dabei oftmals mit der Paranoia: „Indem der Paranoiker die Außenwelt nur perzipiert, wie es seinen blinden Zwecken entspricht, vermag er immer nur sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederholen“17.

Eifrige Psychoanalyse-Gegner werden gegen letzten Einwand Einspruch erheben, indem sie ihre psychische Gesundheit betonen und den Vergleich mit einem paranoiden Menschen als Beleidigung auffassen. Diese Reaktion ist zugegeben verständlich, wobei Horkheimer und Adorno den Paranoiker zwar klinisch verstehen, ihn aber zugleich auf einer gesellschaftliche Ebene abstrahieren: „Dem gewöhnlichen Paranoiker steht dessen Wahl nicht frei, sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit. Im Faschismus wird dies Verhalten von Politik ergriffen, das Objekt der Krankheit wird realitätsgerecht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht“18. Es wird deutlich, dass das Krankhafte der Paranoia nicht auf der Ebene einer klinischen Diagnose verbleibt. Unscharf und falsch wäre es nun zu behaupten, dass alle Antisemit_innen psychisch krank seien, nur weil in der psychoanalytisch fundierten Theoriebildung zum Antisemitismus Bezug auf ein klinisches Krankheitsbild genommen wird.

In ihrer Auffassung gehen Horkheimer und Adorno sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Paranoia zum Symptom des Halbgebildeten machen: „Ihm werden alle Worte zum Wahnsystem, zum Versuch durch Geist zu besetzen, woran seine Erfahrungen nicht heranreicht, gewalttätig der Welt Sinn zu geben, die ihn selber sinnlos macht, zugleich aber den Geist und die Erfahrung zu diffamieren, von denen er ausgeschlossen ist, und ihnen die Schuld aufzubürden, welche die Gesellschaft trägt, die ihn davon ausschließt“19. Halbbildung unterscheidet sich demnach maßgeblich von der bloßen Unbildung, da Halbbildung das beschränkte zur Verfügung gestellte Wissen als Wahrheit deklariert. Hier sollte allerdings betont werden, dass Antisemitismus bzw. falsche Projektionen auch dort entstehen können, wo das Individuum einen vergleichsweise formell hohen Grad an Bildung hat. Horkheimer und Adorno betonen an dieser Stelle, dass Bildung vor allem aus ökonomischen Gründen vermehrt abstirbt und deswegen ganz neue Formen der Paranoia bei den Massen auftreten. Anzumerken wäre, dass der Bildungsbegriff, den die beiden Philosophen hier verwenden, aus heutiger Sicht wahrscheinlich noch stärker vom Aussterben bedroht ist.

Dass der moderne Antisemitismus, der in Deutschland in letzter Konsequenz zur Shoa geführt hat, einer Paranoia glich, ist wohl unbestritten. Dass es sich mit dem heutigen Antisemitismus, bei dem ähnliche primitiven Regungen auf den Staat Israel oder eine vermeintliche zionistische Weltverschwörung projiziert werden, ähnlich verhält, wird von vielen Deutschen, auch den sogenannten Linken, gerne abgestritten. Indem Jakob Augstein mit Rekurs auf Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“ schreibt, dass Israel mit seiner Politik die ganze Welt am Gängelband hält und den ohnehin schon brüchigen Weltfrieden gefährde, finden sich in seinem Sprachgebrauch mitunter die projektiven Bilder der jüdischen Allmacht, während er sich, ähnlich wie Grass und viele weitere Deutsche, als Subjekt womöglich davon bedroht fühlt 20.

Die Psychoanalyse wird von vielen Seiten angegriffen: Ihre Konzepte seien heteronormativ angelegt, zuweilen auch sexistisch, funktionierten nur im Westen usw. Selbst Adorno übt elementare Kritik an der freudschen Psychoanalyse, indem er Freud sogar attestiert, dass seine „unaufgeklärte Aufklärung“ der bürgerlichen Desillusion in die Hände spielen würde21. Dass Freud und seine Rezipierenden keinen derart radikalen Anspruch an Herrschaftskritik hatten wie die Kritische Theorie, ist nicht unbekannt. Was bleibt ist allerdings ihr radikaler Erkenntnisgewinn, dass es ein Unbewusstes gibt, auf das wir denkenden und handelnden Subjekte nicht mit rationalen Mitteln zugreifen können. Stuart Hall beschreibt die Psychoanalyse ebenso wie den Marxismus, den (Post-)Strukturalismus bspw. de Saussures, die Machtanalysen Michel Foucaults und die Frauenbewegung als relevante gesellschaftliche und wissenschaftliche Strömungen, die großen Einfluss darauf genommen haben, dass das Subjekt in der Postmoderne nicht mehr das gleiche Subjekt ist, wie es einst von René Descartes gedacht wurde. Seine Urteils- und Handlungsfähigkeit sind eingeschränkt. Stuart Hall nennt dies die Dezentrierung des cartesianischen Subjekts22.

Fehlende Urteilsfähigkeit führte damals wie heute zu Antisemitismus. Trotz der grundlegenden Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus (siehe Anmerkung12) finden sich projektive Bilder auch in anderen menschenfeindlichen Denkmustern wie Rassismus oder der Abwehr von Asylsuchenden wieder. Diese sind heute präsent und gefährlich zugleich. In ihrer Folge ist es möglich, dass Parteien, die als rechtsextrem eingestuft werden, in ganz Europa Hochkonjunktur feiern und dass alleine in Deutschland im Jahr 2015 so viele Anschläge auf Unterbringungen von Geflüchteten verübt wurden, wie noch nie zuvor23.

Eigene Projektionen zu erkennen ist der erste und wichtigste Schritt, um Reflexivität herzustellen und [gesellschaftlichen] Krankheiten vorzubeugen. Egal ob es sich hierbei um reale psychische Krankheiten handelt oder nicht. Was wir den Theoretiker_innen der Psychoanalyse zu verdanken haben, sollte nicht als nichtig und überholt erachtet werden, sondern Einzug in unser alltägliches Urteilsvermögen nehmen. Horkheimer und Adorno sehen die „[…] individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft [als] Gegenbewegung zur falschen Projektion […]24. Nur in einem emanzipatorischen und herrschaftskritischen Diskurs können Projektionen zeitnah erkannt werden, um schlimmen gesellschaftlichen Katastrophen vorbeugen zu können. Sieht man sich die rassistischen Übergriffe auf Asylunterkünfte, die immer wieder aufkeimenden antisemitischen Vorfälle sowie die Wahlergebnisse der AFD an, schwindet der Glaube an eine aufgeklärte Gesellschaft allerdings mehr und mehr.

1Anzumerken bleibt, dass die Kategorien krank und nicht krank in psychoanalytischen Theoriebildung nicht so statisch gesehen werden dürfen wie heute in der Humanmedizin. Am besten zeigt sich dies im freudschen Begriff der Neurose, der eher als Abwehrmechanismus des psychischen Apparats, anstatt als klassifizierbare Krankheit betrachten werden kann.

2Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009, 196

3Wahlweise sind auch andere Konstellationen denkbar. Folgendes Beispiel ist, wie die freudsche Psychoanalyse selbst, ein sehr heteronormativ gedachtes Konzept, das in dieser Form auch kritisiert werden darf.

4Freud, Sigmund. Gesammelte Werke: Totem und Tabu. Köln: Anaconda Verlag, 2014, 670

5ebd. 671

6Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009, 196

7ebd.

8Sicherlich sind Es, Ich und Über-Ich den meisten Lesenden geläufige Konzepte. Für weitergehende Lektüre empfiehlt sich Freuds „Das Ich und das Es“, oder „Abriß der Psychoanalyse“

9ebd. 201

10Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009, 197

11ebd. 199

12Die heutige Rassismusforschung geht davon aus, dass der aktuelle Rassismus seinen Ursprung in der Kolonialzeit hat. Antisemitismus existiert als Phänomen schon deutlich länger und hat seinen Ursprung im christlichen Antijudaismus. Auch wenn sich der Antisemitismus im Nationalsozialismus des Rassismus bedient hat, es mitunter auch viele Überschneidungen gibt, müssen Rassismus und Antisemitismus heute historisch wie auch sozialwissenschaftlich grundlegend voneinander unterschieden werden.

13Rommelspacher, Birgit. Was ist eigentlich Rassismus. In: Mecheril, Paul; Melter, Claus (Hrsg.). Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und –Forschung. 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2011, 26

14ebd.

15ebd. 27

16Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009, 177

17ebd. 199

18ebd. 196

19ebd. 205

20vgl. http://publikative.org/2013/01/04/was-hat-augstein-eigentlich-geschrieben/

21Adorno, Theodor W. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 9. Auflage. Frankfurt am Main: Surkamp Verlag, 2014, 67

22Vgl. Hall, Stuart. Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument-Verlag, 1994 193 ff.

23https://www.tagesschau.de/inland/anschlaege-asylunterkuenfte-bka-101.html

24Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009, 209

 


Audio: Fifty Shades of Merkel

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Julia Schramm liest aus ihrem gleichnamigen Buch

(9. Juni 2016, Stuttgart)

Mächtigste Frau der Welt und Schwarze Witwe, Klimakanzlerin und Eisengel, Weltmeisterin im Schweigen und Teflon-Kanzlerin, Mutti der Nation und Volksverräterin … Wofür Angela Merkel gehalten wird, was ihr zugeschrieben und was ihr nicht zugeschrieben wird, verrät so manches über deutsche Zustände. Es gibt viele Gründe, sich mit dem „Phänomen“ Angela Merkel näher zu befassen. „In 50 pointierten Betrachtungen gelingt Julia Schramm eine grandiose Annäherung an die Unnahbare und an den bundesdeutschen Zeitgeist – analytisch und humoristisch, klug und anekdotisch“, schreibt der Verlag Hoffmann und Campe in seiner Buchankündigung. Fraglich ist, ob Merkel angesichts ihrer zahlreichen Widersacher aus den eigenen Reihen auch 2016 noch so „alternativlos im Berliner Politikbetrieb“ ist, wie der Verlag meint. Was andererseits auch wiederum erstaunen muss – schließlich ist sie schon längst dabei, die Wünsche nach geschlossenen Grenzen und „Eindämmung des Flüchtlingsstroms“ zu erfüllen.

Julia Schramm, Jahrgang 1985, ist Politikwissenschaftlerin und Autorin. Derzeit promoviert sie an der Humboldt Universität zu Berlin über die Dialektik des Privaten. Sie arbeitet als Fachreferentin für Hate Speech bei der Amadeu-Antonio-Stiftung und als Redakteurin bei no-nazi.net. 2015 startete sie einen Merkel-Blog und schreibt eine Merkel-Kolumne für die Jungle World. Von 2009 bis 2014 war sie Mitglied der Piratenpartei und u. a. Mitglied des Bundesvorstands. 2012 erschien ihr Buch Klick mich, eine Auseinandersetzung mit dem Aufwachsen im Internet.

 

Gegen.Mob.ilisieren

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Antifaschismus in Zeiten globaler Krise und Regression

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

im Rahmen des Antifa Kongress Bayern

Samstag, 8. Oktober 2016, 17 Uhr, Nürnberg                                                   K4/Künstlerhaus, Königsstraße 93

Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán, Rodrigo Duterte, Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders, Norbert Hofer, Frauke Petry, Jörg Meuthen, Alexander Gauland – schön, wenn einem diese Leute alle miteinander egal sein könnten. Doch -zig Millionen Menschen haben sie zu ihren geliebten FührerInnen erkoren. Fast schlagartig manifestieren sich weltweit massenhaft verbreitete menschenfeindliche Denk- und Verhaltensweisen. Erschreckend viele lassen sich von autoritären, nationalistischen, rassistischen, antisemitischen und sexistischen Gefühlen leiten. Zwar halten sich die Fans von Mauern, Stacheldrähten und Schießbefehlen für entschiedene Gegner von Islamisten und Djihadisten, doch sie stehen ihnen näher als sie glauben. Ressentiment gegen die Moderne und Sehnsucht nach homogener Gemeinschaft markieren ihre tiefe Seelenverwandtschaft.

Nicht zufällig spielt sich das vor dem Hintergrund einer globalen Krise des kapitalistischen Verwertungszusammenhangs ab, die seit 2008 nicht enden will. Doch die Linken, deren Thema das eigentlich sein müsste, verwechseln entweder Kapitalismus- mit Kapitalistenkritik und bewegen sich in der Nähe des Antisemitismus. Oder sie entsorgen die Kritik der politischen Ökonomie gleich ganz und deuten die Welt anhand einer Schablone aus „Deutschland“ und „Islam“. Kaum überraschend gleichen manche Thesen aus unterschiedlichsten linken Ecken denen der AfD.

Schwierige Zustände. Doch auch in Zeiten globaler Krise und Regression müssen AntifaschistInnen nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Bei realistischer Lageeinschätzung können sich sogar neue Chancen auftun. Wie attraktiv ist „national-sozial“? Was will der Ruf nach direkter Demokratie? Wie hilfreich ist die „Islamdebatte“? Wie äußert sich Antisemitismus heute? Was ist linksreaktionäre Ideologie? Wie ist mit Antizionismus und Instrumentalisierung Israels umzugehen? Welche Hausaufgaben hat Antifa inmitten einer zunehmend verrückter werdenden Umgebung aus moslemhassenden Sarrazindeutschen, tatsachenresistenten Linken, Nazis, Islamisten und Djihadisten? Was heißt emanzipatorische Intervention heute?

Lothar Galow-Bergemann schreibt u.a. in konkret, Jungle World und auf emafrie.de

 

Frauenhirne – wie ideologischer Unsinn zur wissenschaftlichen Tatsache wird

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Vortrag und Diskussion mit Christine Zunke

Montag, 14. November 2016, 19.00 Uhr, Stuttgart                                                     (Einlass 18.30 Uhr)
Hospitalhof,  Büchsenstraße 33, 70174 Stuttgart

Dass Frauen anders sind, ist allgemein bekannt. Und dass dies nicht gesellschaftliche, sondern natürliche Ursachen habe und die soziale Verschiedenheit der Geschlechter eine Folge der biologischen Unterschiede sei, möchten viele gern glauben. Insbesondere in der Neurophysiologie werden bestimmte Verhaltensweisen durch geschlechtsspezifische Ursachen im Gehirn erklärt. So wird ein weibliches Gehirn konstatiert und vom männlichen unterschieden.
Wie kommen solche naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse überhaupt zustande? Und welche Konsequenzen haben sie für die gesellschaftliche Diskussion um die Gleichstellung der Geschlechter?

Im Vortrag von Dr. Christine Zunke von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg wird exemplarisch am Beispiel des Buches von S. Baron-Cohen „Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn“ gezeigt, wie das vorgegebene Resultat der sozialen Geschlechtsdifferenz sich schon in den Prämissen der Forschung findet, wie Ursache und Wirkung des Wechselspiels von Handlung und gemessener Hirnaktivität sich verkehren und wie schließlich aufgrund nicht-geschlechtskonformen Verhaltens einzelner Proband_innen die Genderzugehörigkeit des Gehirns sich vom Sexus des Körpers trennen muss, um das Dogma des spezifisch weiblichen Verhaltens aufrecht erhalten zu können.

Im Anschluss wird Manuela Rukavina, Vorsitzende des Landesfrauenrat Baden-Württemberg die politischen Auswirkungen und Herausforderungen der Gleichstellungspolitik kommentieren.

In der anschließenden Plenumsdiskussion sind Sie herzlich eingeladen die Themen weiter zu diskutieren.

Moderation: Adrienne Braun, Journalistin, Autorin und Kolumnistin

Christine Zunke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Carl von Ossietzky Universität Hannover. Dort lehrt sie praktische und theoretische Philosophie und ist Mitbegründerin der Forschungsstelle kritische Naturphilosophie (FkN)

Eine Veranstaltung in Kooperation der Friedrich-Ebert-Stiftung Baden-Württemberg, des Evangelischen Bildungswerks Hospitalhof Stuttgart und des Fördervereins Emanzipation und Frieden e.V.

 

Vielfalt und Einfalt

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von Redaktion Sachzwang FM

(zuerst veröffentlicht in Querfunk-Programmheft Sept.-Dez.2016)

Wer – erwartungsvoll und mit Mythen von weltbürgerlicher Intelligentsia angefüllt – als junger Mensch in die große weite Welt, z.B. an die Universität kommt, hat sich vielleicht schon gewundert, daß dort nicht alle durcheinander arbeiten, forschen und essen. Das Bild, das mir vorschwebte, war eines, wie es z.B. die sowjetische Kunst, US-amerikanische Fernsehserien oder die Zeugen Jehovas in ihren Prospekten lanciert haben: Lächelnde Menschen, schwarze, weiße, gelbe, farbige, Männlein und Weiblein, die alle selbstbewußt und entspannt zusammenarbeiten. Das Bild, das sich mir bot, war allerdings ein ganz anderes. Immer habe ich mich – ernüchtert und auch enttäuscht – gefragt, warum schon in der Mensa die Spanierinnen alle beisammen an ihrem Spaniertisch sitzen und essen, während die afrikanischen Studentinnen und Studenten woanders zusammen speisen, ebenso die osteuropäischen, arabischen oder chinesischen Studentinnen. Wieso und woher diese offenbar freiwillige Segregation? Wahrscheinlich, weil die Deutschen ebenso unter sich zu bleiben pflegen, sind sie doch seit jeher international nicht gerade für überbordende Gastfreundschaft bekannt. Entweder ist das eine provinzielle Borniertheit hier im Badischen oder eine deutsche, oder eine europäische, oder sogar eine weltweite. Derart ist es um die allseits gelobte „Vielfalt“ bestellt; recht eigentlich läuft sie auf ein bloßes Nebeneinander, auf beschauliche Zoologisierung hinaus und besteht – und perpetuiert sich – in einer tradierten Abschottung, die das schöne Wort Vielfalt vergessen machen soll. Das Wort macht überhaupt nur Sinn, wenn etwas bereits als das Andere abgesondert worden ist.
Natürlich ist ein Pluralismus an „Meinungen“ oder „Lebensformen“ allemal einer repressiven Uniformierung der Öffentlichkeit vorzuziehen, aber das allzu explizite Lob der „Vielfalt“ als solcher macht hellhörig. Genau in der Manier, in der sich Abtreibungsgegner „Lebensschützer“ nennen, um ihre Kontrahenten als lebensfeindlich zu diffamieren, dient der heitere Klang des Wortes „Vielfalt“ dazu, jede Kritik als engstirnig, repressiv und borniert, eben als Einfalt, zurückzuweisen („bunt statt grau“). Derselben impliziten „Argumentations“-strategie folgen hierzulande oft Plädoyers für „die Familien“ oder „den Mittelstand“, wo dann niemand mehr dagegen argumentieren mag, weil ein klebriger aber harter gesellschaftlicher Konsens getroffen wurde, der aber noch immer der der Volksgemeinschaft ist.

Keine Frage: Der Diskriminierungen – sie mögen subtiler geworden sein als noch vor Jahrzehnten – etlicher gesellschaftlicher Gruppen sind es noch immer zu viele. Längst gehört es, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht mehr zum guten Ton, etwa Schwule, Ausländer oder alleinerziehende Frauen als solche bloßzustellen, vielmehr gefällt sich der politische Mainstream darin, die reaktionäre Gesellschaftspolitik der anderen („der Despot Putin“, „dieser Trump“ oder „der Erdogan“) mit erhobenem Zeigefinger zu maßregeln, wenn die sich gebärden wie – der hiesige Mainstream vor 50 Jahren. Heutzutage feiert sich die deutsche Zivilgesellschaft, oder vielmehr ihre staatlich-kommunalen Exponenten, nur daß nicht mehr (wie in der DDR) „Vorwärts zum Sozialismus!“ auf den Bannern in den Fabriken und auf den Paraden prangt, sondern „Wir schaffen das!“ oder „Für Vielfalt!“ in Broschüren, auf Ansprachen oder auch wieder auf Paraden propagiert wird. Stimmen vermeintliche Gesellschaftskritiker in diesen administrativen Chor ein, so kommt oft genug etwas dabei heraus, das anmutet, als lese man die Presseerklärung einer Referentin für Stadtmarketing.

Das Lob der „Vielfalt“, der wohl-inszenierte Pluralismus an sich, gehört zu den unverbrüchlichen Kernideologemen der bürgerlichen Gesellschaft. Schon das Wort „Vielfalt“ kommt recht naiv und einfältig daher, so platt positiv prätendiert es seinen Inhalt. Als politische Kategorie will sich die „Vielfalt“ nicht so recht einpassen in ernstzunehmende Kontroversen; man führt ja heuer – aus gutem Grund – auch keine Auseinandersetzungen über „Tugend“ oder „Gerechtigkeit“, „Ehre“ oder „Würde“ mehr. Erstens sind das völlig dehnbare Begriffe, viel zu abstrakt, die jeder subjektiv mit seinen bäuerlichen Einlassungen füllen kann; zweitens sind sie insofern unwissenschaftlich, als sie bereits normativ wirken, nämlich eine Wertung verbürgen und freilich das Gute nur für sich reklamieren und darob angeblich keiner Argumente mehr bedürfen. In diesem Jargon kommt der bürgerliche Wertediskurs zu sich. Drittens aber gehören solche Kampfbegriffe einem intellektuellen Milieu und bildungs- und aufklärungsfernen politischen Kulturen an, in denen sie als Namen von Parteien dumpfe Erfolge feiern. Da gibt es im Land X die „Partei der Würde“ oder eine „Sammlungsbewegung für Anstand“, im Land Y die „Liga für Ehre und Treue“ oder in der Provinz Z die „Volksbewegung für Vielfalt“. Fortschrittlich sind die alle nicht, sondern versuchen in einschlägigen Milieus die geistige Lufthoheit für sich zu gewinnen; mit vorpolitischen Begriffen, die eigentlich nur der Propaganda in konformistischen Gesellschaften dienen, wo die Aufklärung dem kontroversen Diskurs noch keine intellektuelle Bresche geschlagen hat.

Das Eintreten für „Vielfalt“ an sich hat in einem gewissen Kontext auch klar völkische Konnotationen: Nicht erst neue Rechte fordern seit langem eine „Vielfalt“ der Völker (im Sinne von „rassischer“ Artenvielfalt, sie nennen das „Ethnopluralismus“), warnen vor „Vermischung“ und ziehen gegen eine „gleichmacherische“ Moderne zu Felde, der neben dem Kommunismus auch die ihnen verhaßte „westliche one world“ angehören soll … Einer solchen identitären Sicht ist natürlich der „Schmelztiegel USA“ genauso verwerflich wie das „Völkergefängnis UdSSR“. Obwohl doch beides der landsmannschaftlich-bornierten alten Welt vorzuziehen ist, auch wenn der Kosmopolitismus es in Krisenzeiten wie diesen besonders schwer hat in den traditionsverhafteten Hirnen.

Vor zwei Jahren war an dieser Stelle, als Editorial, ein Plädoyer namens „Radio der Vielfalt“ zu lesen. Der Beitrag beschäftigte sich vor allem mit der Auseinandersetzung über die Bildungsplanreform der damaligen grün-roten Landesregierung und nahm Partei für die Liberalisierungsbestrebungen hinsichtlich sexueller Lebensentwürfe und gegen die reaktionär anmutenden Verteidiger einer „Leitkultur“, die sich schon damals unter dem grotesken, ja irreführenden Motto einer „Demo für alle“ in Stuttgart zusammenrotteten. Die Volksmobilisierung der Häuslebauer und Normalverbraucher agierte und agitierte ausdrücklich gegen die Akzeptanz alternativer, sexuell devianter Lebensformen. Insofern ist der Name „Demo für alle“ eine Farce sondergleichen.
Ganz offensichtlich kann eine Kritik an der Ideologie der Vielfalt vernünftigerweise nicht unter dem konformistischen Etikett des „Normalen“ geführt werden. Ein Plädoyer wie dieses möchte also nicht in einem Kreuzzug gegen die Vielfalt einer Uniformität das Wort reden. Ich möchte auch nicht jeden Tag dasselbe essen müssen, gegen kulinarische oder libidinöse Vielfalt ist bei Leibe nichts einzuwenden. Vielfalt gefällt, von außen gesehen, allermeistens schon: Was wäre langweiliger als immer dieselbe Kleidung, überall dieselbe Botanik, ständig dieselbe Musik, immer dasselbe Essen oder überall dieselbe Architektur? Spätestens dann, wenn aber imzuge der Vergötzung einer „Vielfalt an Lebensformen“ auch das (zumeist unfreiwillige) Wohnen unter Brücken, in Wohncontainern oder ein Leben unter Vollverschleierung als origineller, abenteuerlicher oder gar romantischer Beitrag zum gesellschaftlichen Pluralismus gefeiert wird, ist das zynische Propaganda, hat man es doch hier mit einer Kulturalisierung des Sozialen zu tun.

Immer noch und viel zu lange schon gibt es ja Sachen, die doof, gefährlich oder ausgesprochen häßlich sind. Sie zur famosen „Vielfalt“ beitragen zu lassen (anstatt scharfe Kritik zu üben, wo nötig), quasi als Selbstzweck, überführt das Lob der Vielfalt schnell der Ideologie. Solange die „Vielfalt der Kulturen“ und Lebensweisen nicht freiwillig besteht, sondern durch staatliche und Milieu-Grenzen und Bornierungen allerseits gesichert wird oder gar durch ökonomische Ungleichheit bedingt ist, wird das Lob der „Vielfalt“ seinen propagandistischen Ruch nicht los. Jedenfalls bezeichnet das schöne Wort eine ästhetische Kategorie, keine politische. Und das sollte, solange man bei Trost ist, nicht verwechselt werden, um nicht einer „Ästhetisierung der Politik [vorzuarbeiten], die der Faschismus betreibt“ (Walter Benjamin, 1936).

 

Audio: Frauenhirne – wie ideologischer Unsinn zur wissenschaftlichen Tatsache wird

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Vortrag von Christine Zunke

gehalten am 14. November 2016 in Stuttgart 

Dass Frauen anders sind, ist allgemein bekannt. Und dass dies nicht gesellschaftliche, sondern natürliche Ursachen habe und die soziale Verschiedenheit der Geschlechter eine Folge der biologischen Unterschiede sei, möchten viele gern glauben. Insbesondere in der Neurophysiologie werden bestimmte Verhaltensweisen durch geschlechtsspezifische Ursachen im Gehirn erklärt. So wird ein weibliches Gehirn konstatiert und vom männlichen unterschieden.
Wie kommen solche naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse überhaupt zustande? Und welche Konsequenzen haben sie für die gesellschaftliche Diskussion um die Gleichstellung der Geschlechter?

Im Vortrag von Dr. Christine Zunke von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg wird exemplarisch am Beispiel des Buches von S. Baron-Cohen „Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn“ gezeigt, wie das vorgegebene Resultat der sozialen Geschlechtsdifferenz sich schon in den Prämissen der Forschung findet, wie Ursache und Wirkung des Wechselspiels von Handlung und gemessener Hirnaktivität sich verkehren und wie schließlich aufgrund nicht-geschlechtskonformen Verhaltens einzelner Proband_innen die Genderzugehörigkeit des Gehirns sich vom Sexus des Körpers trennen muss, um das Dogma des spezifisch weiblichen Verhaltens aufrecht erhalten zu können.

Christine Zunke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dort lehrt sie praktische und theoretische Philosophie und ist Mitbegründerin der Forschungsstelle kritische Naturphilosophie (FkN)

Eine Veranstaltung in Kooperation der Friedrich-Ebert-Stiftung Baden-Württemberg, des Evangelischen Bildungswerks Hospitalhof Stuttgart und des Fördervereins Emanzipation und Frieden e.V.

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